Gustav Freytag - Die Ahnen. Страница 56

Die Geißel fiel zur Erde neben Tutilo, welcher ächzend auf dem Boden saß und betäubt seinen Kopf auf die Hand stützte. Immo starrte wild umher. Da er merkte, daß er allein war und daß seine Genossen sich in den Ecken und hinter den Säulen zu bergen suchten, trat er an den Stuhl des Abtes zurück, aber seine Augen flogen herausfordernd über den Haufen. Herr Bernheri begann zornig: »Nicht die Geweihten des Herrn sehe ich vor mir, sondern eine Herde wilder Eber, welche begierig ist, die eigenen Ferkel zu fressen. Ich aber verachte euer Grunzen und das Schnauben eurer ungewaschenen Rüssel, denn, wie sagt der hohe Apostel: ›Sie wandeln dahin in ihrer Dummheit.‹ Was aber hier Reinhard, der würdige Bruder, vorschlägt, das gefällt auch mir. Mit den Dekanen und mit den Ergrauten, welche nicht Häcksel in ihrem Kopf haben, gedenke ich in späterer Stunde die Leiden des Klosters zu erwägen, bis dahin mögen sie selbst in der Stille prüfen, ob sie eine Hilfe finden. Denn auch der Esel schreit laut, wenn er müßig steht, wenn er aber die Säcke tragen muß, so schweigt er geduldig. Sie sollen auch einmal die Last tragen, ich bin es müde, allein für euch grobe Klötze Rat zu suchen, wo es keinen gibt. Und so scheide ich jetzt den Konvent, wandelt bis morgen dahin in Frieden. Ich aber verweile hier in meinem Hofe, damit niemand meint, daß ich den Unzufriedenen das Feld räume. Bestelle, was nottut, mein Kämmerer Eggo, und diesen behenden Springer nimm mit dir. Nie sah ich einen Scholastikus so wild auf geschorenen Köpfen zum Altar reiten.« Der Abt wandte sich schwerfällig zum Altar und neigte sich. Reinhard eilte zu den Brüdern und sprach nachdrücklich in die Ältesten hinein, doch mürrischer Widerspruch erhob sich und laute Stimmen riefen: »Der Schüler gehört in unseren Kerker, denn er hat gegen einen Mönch gefrevelt.« Der Abt wandte sich wieder dem Haufen zu: »Der Scholastikus gehört unter die Zucht des Lehrers Reinhard, dem Reinhard aber gebiete ich mir zu folgen, denn ich bedarf seiner, damit ich ihn, wenn es nottut, zu euch sende.« Herr Bernheri stieg langsam vom Altar, warf noch einen verachtenden Blick auf die empörte Gemeinde und schritt unaufgehalten durch seinen Ausgang nach dem Abtshofe. Um ihn drängten sich die Getreuen von St. Peter, sein Kämmerer hielt den Jüngling, welcher friedlich folgte, bei der Schulter; als letzter ging Reinhard.

Hinter dem Abte brauste noch lange die wogende Menge, die erste Wut war verraucht, aber bitterer Groll zurückgeblieben. Tutilo wurde von zwei Brüdern in die Klausur geführt, wo er sich erst erholte, nachdem der Kellermeister einen Krug Würzwein in seine Zelle gestellt hatte. Neben dem Kruge saßen einige alte Brüder, den Kranken zu pflegen; sie prüften und billigten den Trunk und zürnten, obgleich sie mit gedämpfter Stimme sprachen, heftig auf mehrere, welche abwesend waren.

Unterdes stand Immo in der Büßerzelle der Abtei, ein Bruder von St. Peter, der ihm fremd war, hatte ihm ein Bund Stroh hineingebracht und einen Krug mit Trinkwasser, ohne ein Wort zu sprechen, und Immo, der den Klosterbrauch kannte, hatte auch keine Frage getan, um sich nicht über die versagte Antwort zu ärgern. Einen Augenblick dachte er daran, den Bruder festzuhalten und an seiner Stelle hinauszuspringen, aber mit leisem Stöhnen gab er den Gedanken auf, denn er wußte wohl, daß das Haus des Abtes von Reisigen besetzt und keine Möglichkeit zur Flucht war. Er untersuchte seinen Kerker, doch dieser bot geringen Trost, er war nicht in freier Höhe gezimmert und kein Dach erhob sich über ihm, es war ein Kellerloch, nicht viel länger als ein Mann, und die kleine Lichtöffnung vermochte kein Geschöpf, das größer war als eine Katze, zu durchklettern. So blieb ihm nichts übrig, als auf dem Stroh zu sitzen und die finstern Gedanken wegzuscheuchen, welche wie Fledermäuse um sein Haupt schwirrten. Lange tröstete ihn ein wenig die Überlegung, daß er den Tutilo, der immer herrisch gegen ihn gewesen war, so schön zu Boden geschlagen hatte. Er griff nach dem Pergament mit dem Goldfaden und wiederholte sich die Worte, welche Hildegard zu ihm gesprochen hatte, aber dabei wurde der Gedanke in ihm übermächtig, daß er jetzt zum zweitenmal als Gefangener in elendem Kerker saß. Als gar der Abend kam und der Hunger stark in ihm nagte, wurde ihm frostig zumute, und ihm fiel ein, daß seine Zelle für eine furchtbare Stätte galt. Manche Geschlechter vergangener Mönche hatten hier jahrelang gebüßt und in Kreuzesform dagelegen, während die Geißel über ihren Rücken flog und ihr Blut auf den schwarzen Boden rann. Unheimliche Geschichten erzählten die Schüler von der Not der Frevler, welche der Abt gefesselt hielt, und wer in der Dämmerung an der Zelle vorübergehen mußte, der wandte das Haupt ab und beeilte den Schritt. Daß Tutilo und seine Genossen ihm todfeind geworden waren, erkannte er jetzt deutlich, und ihm kam auch vor, als könnte er wohl das Sühnopfer werden, über dessen Leib der Abt mit den Mönchen Frieden mache. Wild sah er umher und griff im letzten Zwielicht an die Wände; es waren dicke Mauern, hier und da hatte ein Büßer sein Kreuz in den Kalk geritzt, um davor zu beten. Da neigte auch er das Haupt und begann einen lateinischen Psalter, aber unter den heiligen Worten kam ihm die Angst, was wohl die Apostel Simon und Thaddäus, vor deren Gebeinen er den Tutilo niedergeworfen hatte, von seinem Tun denken würden. Er konnte nicht glauben, daß Tutilo als ein arger Mann in Gunst bei den Hohen stehe, aber ob sie besonderes Wohlwollen für ihn selbst hegen könnten, erschien ihm sehr zweifelhaft, denn sicher hatte er eine schwere Tat begangen und ihr Heiligtum entweiht. Da faltete er die Hände und bat den heiligen Wigbert, sein Fürsprecher zu werden. Dieser war ihm immer hold erschienen, und am liebsten hatte er vor seinem Altar gebetet, denn er dachte sich, daß der Heilige auf Erden ein guter Geselle seines Ahnherrn gewesen und seit alter Zeit dem Geschlechte vertraulich war. So bat er jetzt demütig um seine Hilfe. Und als er an die Heimat dachte, wurde ihm das Herz weich.

Aber stürmisch hoben sich wieder die Gedanken. Wenn er die Eisenstange nur hätte, die er heute früh geschwungen, dann könnte er wohl die Tür erbrechen. Und er stampfte mit dem Fuß auf den Boden, ob es irgendwo hohl klänge. Denn aus der Tiefe der Erde kam geheimnisvoll die Fülle aller guten Dinge, nicht nur die Landleute, die noch Heidenbrauch übten, auch die Mönche wußten das. Vielen Goldschatz barg die Mutter Erde, aber auch anderes Metall schenkte sie aus ihrem Vorrat den Bedrängten. Warum sollte nicht auch er in seiner Not eine Waffe aus der Erde graben, die ihn von der drohenden Schmach erlöste. Er griff und stieß wieder an Wänden und Boden umher, aber nirgends erkannte er hartes Eisen. Und er faltete aufs neue die Hände und kauerte auf dem Stroh.

Während er demütig in der Finsternis saß, vernahm er von außen langsame Tritte, ein Lichtstrahl fiel durch das Eisenschloß golden in die Zelle, ein Schlüssel knarrte, die Tür ging ächzend auf, und ein Mann trat schwerfällig herein und beleuchtete vom Eingange mit seiner Blendlaterne den Sitzenden. Immo schnellte empor, er erkannte Bernheri, seinen Abt und Herrn. »Stemme dich von außen gegen die Tür, Eggo,« begann der Abt, nach rückwärts gewandt, »damit der Scholastikus Saliarius nicht auf den Einfall komme, uns selbst als Springböcke zu gebrauchen oder gar in unserem eigenen Keller einzuschließen.« Immo ließ sich auf die Knie nieder und senkte schweigend das Haupt, suchte aber doch durch verstohlene Blicke die Meinung des Herrn zu erraten.

»Sieh, Immo,« fuhr der Abt feierlich fort, auf den Gebeugten herabblickend, »du bist zum Greuel geworden vor allem Volke, und die Töchter Israels schreien wehe über dich; welches aber nur tropice gemeint ist, denn ich hoffe, daß du Unglücksvogel dich in Wirklichkeit von jüdischen Weibern stets ferngehalten hast, zumal keine in der Nähe des Klosters zu finden sind. Aber was die Schrift sagt, das gilt jetzt von dir: ›Aus der Tiefe schreie ich und niemand hört meine Stimme.‹ Ganz verworfen bist du, und die hohen Engel würden dich mit zahllosen Backenstreichen begaben, nur daß solche Regung der Hände für Himmlische unschicklich ist. Was dich erwartet, weißt du. An ein Kreuzholz wirst du gebunden und so lange gegeißelt, bis dein Vater Tutilo für dich bittet; ich meine, er wird sich nicht beeilen. Und später wirst du auf Stroh gelegt in der Klausur der Brüder, wo nicht Sonne noch Mond dich bescheinen. Solches sind die Folgen deiner Springerei und deines nächtlichen Dachkletterns. Meinst du, daß ich nicht weiß, wer mir die Böcke bei Mondschein aus dem Walde holt; Item, das sind die Folgen deines Abtspiels am Feste der unschuldigen Kindlein. Meinst du, daß mir unbekannt ist, wie du dir damals in der Schule ein Kissen unter deine Kutte gebunden hast, um deinen hageren Leib gleichsam zum Hohn für mich mit einem Bauch zu versehen? Je mehr ich deine Art erwäge, desto mehr Sünde finde ich in dir und erkenne, daß du zu denen gehörst, von denen geschrieben steht: ›Sie sollen vertilgt werden wie Spreu.‹ Erkenne deine Missetat und bereue, denn es bleibt dir nicht viel Zeit. Auch der Floh springt nur so lange, bis er geknickt wird.«

Immo schauerte. Doch nicht ohne Nutzen war er sechs Jahre im Kloster gewesen, und er hatte ein wenig die Mönchskunst gelernt, die Miene des anderen zu beobachten und vorsichtig die Worte zurückzuhalten. Darum antwortete er demütig: »Mein Herr und Vater, mich reut nicht, daß ich so geschwind war, solange den Tutilo nicht reut, daß er die Hand gegen seinen Herrn erhoben hat.«

»Ich merke,« rief Herr Bernheri, »du hoffst, daß ich in dieses Loch herabgestiegen bin, um dich daraus emporzuheben. Darin irrst du gänzlich. Da ich Abt der Brüder bin, so fordert meine Würde, deine Missetat zu strafen, wenn diese auch in guter Meinung für mich verübt wurde. Denn sobald der Morgen anbricht, werden viele das Urteil über dich fordern. Heut aber denke ich daran, daß du aus altem Geschlechte bist und daß auch ich einst mich meiner Abkunft rühmte, bevor ich mich einem Herrn gelobte, vor dem alle gleich sind, Freie und Unfreie. Darum komme ich zu dir. Hast du das Gitter der Kirche gebrochen, so vermagst du vielleicht auch diese Tür zu öffnen und hinauszufahren, ohne daß dich jemand sieht, du bist ja gewöhnt, die Pfade eines Marders zu wandern.« Aus dem Faltengewand des Abtes sank ein eisernes Werkzeug auf den Boden. Immo schnellte in die Höhe und seine Augen glänzten, aber er faßte sich und antwortete: »Mein Herr möge mir verzeihen, wenn ich nicht wie ein Dieb ausbrechen will. Wohin soll ich fliehen? In den Hof meiner Väter vermag ich nicht zurückzukehren, wenn ich als Verbrecher dem Wigbert entweiche, denn schnell würden die Väter den flüchtigen Schüler zurückfordern vor ihr Gericht.«

»Sprichst du so stolz, du Tor,« rief der Abt, »ich meine, jede Stelle, wo der Himmel dich deckt oder das Laub dich verbirgt, wird für dich lustiger sein als die Mauersteine dieses Kerkers.«

Immo ließ sich wieder vor dem Abt auf die Knie nieder. »Dennoch flehe ich, daß mein Herr mir ehrlichen Urlaub gibt und mich als Freien entsendet.«

»Mit einem Gefolge von Zinken und Posaunen,« versetzte der Abt unwillig, »ganz toll bist du in weltlichem Hochmut. Und welche Herrlichkeit der Erde gedenkst du für dich zu begehren, wenn du den Klostermauern entweichst?«

»Ein Schwert will ich finden und ein Roß; denn, hochwürdiger Vater, ein Kriegsmann will ich sein und kein Mönch.«

»Wirst du ein Mönch, so wird bald der üble Teufel dein Abt werden, und wirst du ein Kriegsmann, so wirst du einer von den Wölfen, welche um St. Wigberts Stall heulen, bis sie dir auf grüner Heide ein Bett schaufeln.«

»Herr,« versetzte Immo flehend, »zu deinen Füßen will ich geloben, daß ich in allen meinen Tagen daran denken werde, wie ich an dir einen gütigen Vater fand.«

»Bin ich eine Dirne, daß du mich mit Verheißungen und mit schönen Worten bereden willst? Außerdem ziemt mir nicht, an diesem kalten Ort der Buße von weltlichen Dingen zu reden. Und deshalb frage ich dich zum letztenmal, ob du lieber die Geißel wählst oder eine zerbrochene Tür.«

»Nicht die Geißel will ich und nicht die heimliche Flucht. Um gnädige Entlassung flehe ich zu meinem Herrn, damit ich mein Haupt hoch tragen kann unter meinesgleichen.«

»Einem nimmersatten Windhunde gleichst du,« versetzte Herr Bernheri, »und ärgerlich willst du mir werden.« Aber er sah dabei mit Wohlgefallen auf den Jüngling. »Ich schließe dich wieder ein. Bleibe auf den Knien und sprich den 37. Psalm, wo er lautet: › Miser factus sum et curvatus‹, wenn du die Worte vermagst, was ich dir nicht zutraue. Und dabei harre auf die Heiligen, ob sie sich deiner erbarmen.« Der Abt wandte sich ab, Immo faßte ihm nach dem Gewand, aber Herr Bernheri entzog sich eilig, der Riegel fuhr in das Schloß und Immo war allein in tiefer Finsternis. Er griff nach dem Eisen und preßte die Hand darum, wild stürmten ihm die Gedanken durch die Seele, Sorge und Hoffnung, dennoch hielt er jetzt das Gerät in der Hand, welches seine letzte Hilfe sein konnte. Wie durch ein Wunder war ihm auf den Boden gelegt, was er von den Gewaltigen, die unter der Erde hausten, ersehnt hatte. Brachte die Nacht keine andere Hilfe, so konnte er diese gebrauchen. Er stand in der Finsternis und horchte auf jedes Geräusch, das von außen kam.

Nicht lange, so vernahm er wieder Tritte und sah einen Lichtstrahl, der Riegel rasselte und der Mönch Eggo winkte ihm zu folgen. Leise gingen beide die Stufen hinauf; ein großer Raum, in den sie traten, war undeutlich erhellt durch die glimmenden Holzkloben im Kamin. Auf Bänken an der Wand und auf dem Boden lagen Reisige des Abtes in tiefem Schlaf. Wieder mahnte ein Zeichen des Mönchs zur Vorsicht, er öffnete eine eisenbeschlagene niedrige Tür und führte eine Wendeltreppe hinauf. Als Immo aus der Tiefe emportauchte, stand er in einem kleinen Zimmer, dessen Wände zierlich mit dunklem Holz getäfelt waren.

Auf dem Tisch stand eine metallene Lampe, deren rötliche Flamme im Luftzuge flackerte und rauchte; Eggo trug eine Wolldecke herzu, legte sie auf den Boden und flüsterte: »Rühre dich nicht und schlafe, wenn du vermagst.« Gehorsam setzte sich Immo auf die Dielen, und als er zur Seite blickte, sah er den Mönch wie einen Schatten an der Wand dahingleiten und hinter einem Teppich verschwinden. Er starrte in den dämmrigen Raum, auf die dunklen Bretterwände, an denen die Hirschgeweihe sich im lodernden Lichte bewegten, und auf die Waffen in den Ecken, deren Metall bald hell erglänzte, bald in Finsternis schwand. Aber das Herz war ihm leicht geworden, denn er erkannte wohl, daß Herr Bernheri ihn nicht für die Rache des Tutilo aufbewahren wollte; er schloß die müden Augen und entschlief.

So mochte er lange gelegen haben, da erwachte er von einer leisen Berührung, er fuhr auf und blickte erstaunt um sich. Noch war es Nacht, die Lampe brannte trüber, über den Waldhügeln lag der graue Dämmerschein des nahen Morgens, und an seinem Lager erkannte er eine dunkle Gestalt. Erschrocken hob er den Leib und stützte sich auf die abgewandte Hand. Neben ihm saß der fremde Mönch, der als Lehrer in das Kloster gekommen war. Immo wollte aufspringen, aber Reinhard drängte ihn durch eine Bewegung zurück. »Sitze an meiner Seite, Immo, und öffne dein Ohr, damit eine leise Mahnung in deine Seele falle. Höre mich mit Vertrauen, wenn ich dir auch noch fremd bin, denn nicht als dein Kerkermeister, sondern wie ein Freund will ich zu dir reden und von deiner Heimat will ich dir Gutes verkünden. Frau Edith sendet dir ihren Muttersegen: Sage meinem Sohn, sprach sie, jeden Abend und jeden Morgen flehe ich zu den Heiligen, daß sie ihm das Siegestor öffnen. Schwer wird der Mutter, das Angesicht des Sohnes zu missen, auch darum hoffe ich, daß die Himmlischen das Opfer gnädig annehmen.«