Karl May - Abdahn Effendi

Karl May

ABDAHN EFFENDI

Abdahn Effendi

Was ich heut´ so öffentlich erzähle, war bisher ein tiefes Geheimnis. Und dennoch war es keines, weil es sich vor allen Augen und Ohren vollzog, die sehen und hören wollten. Viele berufene und unberufene Menschen gaben sich Mühe, das Rätsel zu lösen, doch stets vergeblich, weil sie selbst mit im Geheimnis standen, ohne daß sie es glaubten oder wußten. Keiner von ihnen allen brachte es fertig, sich aus diesem Geheimnisse herauszustellen, um die ganze, unsaubere Bande zu durchschauen, die aus fünf Personen bestand, die in Summa nur drei Namen hatten, nämlich zwei Achmed Agha, zwei Selim Agha und Abdahn Effendi, der eigentliche Gebieter.

Die vier Agha waren Offiziere; der Effendi aber war Zivilist und zugleich der dickste Mensch, den ich in meinem Leben gesehen habe. Er betrieb die Viehzucht, die Landwirtschaft, die Bäckerei, die Fleischerei, die Fischerei, die Jagd, die Gastwirtschaft, den Binnen- und Außenhandel und war zu gleicher Zeit der Schech el Beled, der Kadi und der Imahm (Schultheiß, Richter und Geistlicher) der weit ausgedehnten Landschaft Dschan, durch die sich die türkisch-persische Grenze zieht. Daher der Titel Effendi, den er von jedermann verlangte und auch wirklich zugesprochen erhielt. Dschan liegt sehr hoch, im Süden des kurdischen Gebirges. Dort ragen die Berge von Uluhm empor, zwei Reihen zum Teil scharf abgegrenzter, zum Teil auch ineinander fließender Höhen, die, immer parallel miteinander, von Nordwest nach Südost verlaufen und zwischen sich ein langes, viel gewundenes, tief und steil eingeschnittenes Tal bilden, auf dessen Sohle ein sehr fischreiches Wasser fließt. Die Fische gehörten dem Effendi. Er behauptete das. Und er hatte gedroht, einen jeden niederzuschießen, der sich an einer einzigen Flosse zu vergreifen wage! Die Berge von Uluhm sind, ebenso wie das zwischen ihnen liegende Tal, sehr dicht mit Busch und Wald bestanden, worin es Wild in Menge gibt. Der Effendi behauptete, daß auch dieses ihm gehöre und daß er einen jeden aufhängen werde, der so frech sei, auch nur eine einzige Maus oder Ratte anzutasten!

Wer die Türkei und Persien kennt, der weiß, daß an der Grenze beider Länder allezeit ein ebenso reger wie einträglicher Schmuggel betrieben worden ist. Und nie hat es eine Stelle gegeben, welche die Aufmerksamkeit der beiderseitigen Zoll- und Steuerbehörden in der Weise auf sich gezogen hat, wie die Landschaft Dschan, die mit ihren Bergen, Schluchten und Wäldern die Pascher geradezu herausforderte, sich hier zusammen zu ziehen.

Ein breiter Karawanenweg führt, Persien mit der Türkei verbindend, quer durch Dschan und also ebenso quer zwischen den Bergen von Uluhm hindurch. Das ist der offizielle, der befohlene Weg, den alle Personen und Güter zu nehmen haben. Jeder andere Weg wird als Schleichweg betrachtet, und wer ihn geht, setzt sich der Gefahr aus, als Schmuggler betrachtet und behandelt zu werden, vielleicht gar als Dieb und Räuber für Fisch und Wild. Da, wo diese Karawanenstraße auf der östlichen Seite in das Tal hinuntersteigt, befindet sich das Hauptquartier der persischen Zollbeamten. Da, wo sie auf der westlichen Seite wieder emporgestiegen ist, stehen die Gebäude der türkischen Douane. Beide also hoch oben auf den beiden Rändern des Tales, während unten, in der Mitte desselben, die Besitzung des Effendi an der über das Wasser führenden Brücke liegt. Er behauptete, daß diese Brücke ihm auch gehöre, und drohte, einen jeden einzusperren, der hinüber- oder herübergehe, ohne ihm den Brückenzoll zu entrichten! Sein Anwesen bestand aus einem nicht unbedeutenden Komplexe von Häusern, Hütten, Stallungen, Schuppen, Tennen, Winkeln und Löchern, welche alle dem Betriebe der oben erwähnten Tätigkeiten und Berufe zu dienen hatten. Die beiden geräumigsten unter diesen Baulichkeiten waren zwei Karawanserais, rechts an der Straße eines für die, welche von rechts her, also von Persien kamen und nach der Türkei wollten, links an der Straße eines für die, welche von links her, also von der Türkei kamen und nach Persien wollten. Da war den von beiden Seiten Kommenden Gelegenheit gegeben, mit ihren Tieren und Waren Unterkunft zu finden und sich auszuruhen oder gar zu übernachten. Im Hauptgebäude, in dem Abdahn Effendi selbst wohnte, gab es auch für vornehmere Leute Gelegenheit, zu wohnen. Nämlich zwei Zimmer über dem Parterre und noch zwei Stuben, die über diesen beiden lagen. Es gab also so eine Art erster und zweiter Etage, die aber beim Bau des Hauses gar nicht mit geplant worden waren. Sie bildeten vielmehr einen einfachen Würfel von Bretterwänden, die man erst später auf das platte Dach gesetzt hatte, um diese vier Unterkunftsräume zu gewinnen.

Ich war mit meinem kleinen Hadschi Halef Omar, den Scheik der Haddedihn-Araber, den jeder meiner Leser kennt, von Bagdad hier heraufgekommen, um nach Teheran zu gehen. Wir kehrten nicht in einem der beiden Serais, sondern hier im Hauptgebäude ein, in der Stube, die im Parterre lag und als das Zimmer für vornehme Gäste bezeichnet wurde. Man hielt uns sofort für vornehm, weil man uns nach unseren Pferden taxierte, die Araber von reinstem Blute waren und in jener kostbaren Weise aufgeschirrt, die man in Persien mit dem Namen Reschma bezeichnet. In dem Zimmer saßen fünf Personen, drei ältere und zwei jüngere. Einer von den Alten war ungeheuer dick. Er saß auf einem Sitz, der ganz augenscheinlich extra stark für ihn besonders angefertigt worden war. Sich in orientalischer Weise niederzusetzen, durfte er nicht wagen, weil es ihm in diesem Falle unmöglich war, wieder aufzustehen. Halef sagte, als er ihn erblickte, leise zu mir:

»Maschallah (Wunder Gottes), was für ein Mensch! Wer dreimal um ihn herumgeht, muß sich unterwegs viermal setzen, um auszuruhen!«

Dieser Mann war Abdahn Effendi, der Wirt. Seine Wangen standen wie Halbkugeln und seine Äuglein verschwanden fast ganz unter oder hinter dem Fettpolster, welches sie umgab. Den Mund sah man fast nicht und der Schnurrbart war unter der dicken Rindstalgnase vor Fett ganz verdünnt, erstickt und verkümmert. Aber der Zug von Gutmütigkeit, der wohlbeleibten Leuten eigen zu sein pflegt, war diesem Gesichte fremd. Die Augen schielten und wenn der »Effendi« sprach, so hatte seine Stimme einen außerordentlich hochmütigen, harten, rücksichtslosen Klang. Eben als wir in die Stube traten, aß er. Ich habe ihn überhaupt fast niemals anders als essend gesehen. Von den beiden anderen Alten hatte der eine ein langes, schmales Vogel-, der andere aber ein kurzes, breites Bulldoggesicht, doch beide echt orientalisch geschnitten und in lange, dichte Vollbärte gehüllt. Die zwei jüngeren Männer sahen einander ähnlicher. Der eine lächelte immerfort wie ein Fuchs, der einer Gans die Ehe verspricht, und der andere saß, ging und stand ohne Unterlaß geduckt wie ein Marder, der einen Hühnerstall beschleicht. Man sieht, sympathisch waren diese Leute eben nicht, aber psychologisch außerordentlich interessant. Man fühlte gleich beim ersten Blicke, daß mit keinem von ihnen gut Kirschenessen sei und man nicht mit ihnen anbinden durfte, außer man wünschte, daß irgend etwas mehr oder weniger Unangenehmes passiere. Nach altem, orientalischem Brauche sagte mir der Effendi, daß er der Wirt sei, und nannte mir denn die Namen und die Berufsstellungen der vier anderen Männer. Sie titulierten sich gegenseitig Agha, was so viel wie »Herr« bedeutet und stets hinter den Namen gesetzt wird. Diese vier hatten nur zwei Namen. Die beiden Älteren hießen Achmed Agha und die beiden Jüngeren Selim Agha. Hierzu kam, daß zu dem gleichen Namen sich der gleiche Rang gesellte. Die beiden Achmeds standen im Oberstenrange; die beiden Selims waren Leutnants, alle vier also Offiziere. Ich fragte mich, welche Gründe man in Konstantinopel und Teheran wohl gehabt haben könne, zwei so hohe und verdiente Offiziere, wie ein Oberst doch wohl ist, in diese abgelegene Gegend zu versetzen; aber die Herren zeigten sich außerordentlich mitteilsam; sie freuten sich sichtlich, wieder einmal mit einem gebildeten Menschen sprechen zu können, und als sie gar hörten, daß ich Europäer sei, schien ihnen sehr daran zu liegen, sich vor mir in gutes Licht zu stellen. Darum erzählten sie mir ganz ungefragt und unaufgefordert, warum und weshalb sie von Bagdad und Teheran hieher gekommen und dann hier geblieben seien.

Es war, wie sie versicherten, mit der Schmuggelei hier nicht mehr auszuhalten gewesen. Die Zölle hatten fast gar nichts mehr eingebracht und so waren die beiden Regierungen darin übereingekommen, die Bewachung der Grenze der bisherigen liederlichen Aufsicht zu entziehen und in feste, militärische Hände zu legen. Dies konnte aber nicht geschehen, ohne daß die betreffenden militärischen Personen vorher bei der jetzigen Douane eine Lehrzeit durchgemacht hatten, um ihre Pflichten kennen zu lernen und in ihren Beruf sich einzuleben. Darum wurde von beiden Seiten je ein Hauptmann, ein Oberleutnant und ein Leutnant nebst drei gewöhnlichen Soldaten zu ihrer Bedienung herauf nach Dschan geschickt. Der Erfolg war ein überraschend schneller. Die beiden Hauptleute und die beiden Oberleutnants wurden mit ihren Soldaten von den Paschern schnell weggeputzt. Man begrub ihre Leichen, wo man sie fand. Die beiden Leutnants aber bewährten sich. Sie hielten sich mit ihren zwei Soldaten. Sie schafften Wandel. Sie wiesen nach, daß die beiden bisherigen Kommandanten mit den Schmugglern gemeinschaftliche Sache gemacht und die Behörden um ungeheure Summen betrogen hatten. Die beiden Verbrecher wurden abgesetzt und in Ketten nach Teheran und Bagdad transportiert; ganz selbstverständlich bekamen die Leutnants die freigewordenen Stellen. Sie blieben; sie blieben für immer, aber nur aus Pflichtgefühl und Aufopferung, denn wenn sie gegangen wären, hätte die mühsam unterdrückte Schmuggelei sofort ihr Haupt von Neuem erhoben und alle bisherige Mühe wäre vergeblich gewesen. Aber die vorgesetzten Behörden waren dankbar für eine so beispiellose Uneigennützigkeit und Treue. Sie ließen die Leutnants und Soldaten entsprechend avancieren. Die Leutnants hatten es, als ich nach Dschan kam, schon bis zum Obersten gebracht, und die Soldaten standen bereits im Leutnantsrang. Weil die ersteren beide Achmed und die letzteren beide Selim hießen, alle vier aber Agha waren, konnte man sie nur dadurch auseinander scheiden, daß der Rang der beiden türkischen Offiziere nach türkischem Gebrauch, die Chargen der beiden persischen Offiziere aber in persischer Weise bezeichnet wurden. Oberst heißt türkisch Mir Alai, persisch aber Särtix. Leutnant heißt türkisch Mülasim, persisch aber Naïb. Darum hieß der Alte mit dem Vogelgesicht Mir Alai Achmed Agha, der Alte mit dem Buldoggesicht Särtix Achmed Agha, der Junge mit dem Fuchsgesicht Mülasim Selim Agha, und der Junge mit dem Mardergesicht Naïb Selim Agha.

Wir, nämlich Halef und ich, hatten gar nicht hier bleiben, sondern nur unsere Pferde ausruhen lassen und dann weiterreiten wollen, aber der Anblick dieser fünf Männer erweckte den Wunsch in mir, sie kennen zu lernen. Wir aßen etwas, dann verließ ich die Stube, um, wie es so meine Weise ist, einen kurzen Gang durch die Umgebung zu machen, um sie meiner Erinnerung einzuprägen. Als ich nach vielleicht zwei Stunden zurückkehrte, saß Halef nicht mehr an seinem Platze, sondern bei den fünf Männern. Sie hatten gewünscht, daß er bei ihnen sitze, und ihn dann ausgefragt. Wer meinen kleinen Hadschi Halef kennt, der weiß, welche Schleusen der Beredsamkeit da von ihm geöffnet worden waren, um unsere Erlebnisse und alle tausend Vorzüge, die er uns andichtete, in das hellste Licht zu stellen. Ich wurde zu meinem großen Erstaunen mit lautem Jubel begrüßt. Sämtliche Agha taten, als ob sie mich schon längst gekannt und geliebt hätten, und der dicke Abdahn Effendi bat mich inständigst, so lange sein Gast zu sein, wie es mir beliebe und ohne etwas zu bezahlen; nur müsse ich ihm den Gefallen tun, den riesengroßen, kurdischen Bär zu erlegen, der von Norden her in die Waldungen von Dschan gedrungen sei und unter dem Wildstand ungeheure Verwüstungen anrichte.

Kein hiesiger Mensch getraute sich an ihn. Meine Leser kennen diese Art des Bären; ich habe wiederholt von ihr erzählt. Der kleine Halef hatte erklärt, daß ich diesen Wunsch wahrscheinlich erfüllen werde, weil es uns zu aller Zeit eine Freude sei, mit einem solchen Raubwilde Bekanntschaft zu machen. Ich hatte keinen Grund, anders zu denken als er, und stellte nur die Bedingung, daß uns gute Unterkunft und gutes, gesundes Futter für unsere Pferde geboten werde. Dieser Bescheid erregte allgemeine Freude. Die Pferde bekamen einen schnell gesäuberten Stall für sich allein angewiesen und so viel Gerste, gequollenen Reis und gequetschte Bohnen, daß sie förmlich wüsten konnten. Und was uns selbst betraf, bedeutete der ultradicke Effendi, daß er uns in eigener Person die Zimmer anweisen werde, die wir bewohnen sollten. Er bekümmerte sich um seine Gäste nie, denn er habe keine Zeit dazu. Daß er sich mit uns jetzt diese Mühe gebe, sei eine Auszeichnung, die wir dankbar anzuerkennen hätten.

Er führte uns hinaus und hinter das Haus, wo eine Holztreppe auf das platte Dach leitete. Er stieg uns da voran, langsam und schwer, ächzend und stöhnend, hustend und pustend, pro Minute einen Schritt. Wir, die wir hinter ihm gingen, hatten das Glück, den Anblick seiner unförmlichen Fleischmasse mit Demut und Ergebenheit zu genießen. Das Dach war lang und breit. Es bestand aus festgeschlagenem Lehm. Man konnte mit großen Schritten darauf spazieren. Es büßte durch den schon erwähnten Bretterwürfel, der die vier Stuben enthielt und auf der Mitte des vorderen Randes stand, nur den vierten Teil seiner Oberfläche ein. Wir bekamen die zwei Stuben, welche direkt auf den Dache standen. Man trat gleich direkt von dem letzteren durch eine Tür hinein. Zu den beiden oberen Stuben führte ein schwankes, hölzernes Mittelding zwischen Treppe und Leiter hinauf. Sie waren schon bewohnt, und zwar auch von zwei Fremden. Der eine von ihnen sei aus dem Sumpflande von Basra, also ein Türke, der andere aus dem Fieberlande von Laristan, also ein Perser. Das Sumpffieber habe sie an den Rand des Todes gebracht und sie gezwungen, für einige Monate hier herauf nach Dschan zu gehen, um in der reinen, stärkenden Höhenluft zu gesunden. Sie seien schon zwei volle Wochen hier und würden uns nicht im geringsten belästigen, da sie sich während des ganzen Tages im Walde aufhielten, um guten Atem zu holen.

Unsere Zimmer gefielen uns sehr, weil sie uns einen freien Ausblick nach allen vier Himmelsrichtungen boten und weil wir nur aus der Tür zu treten brauchten, um im Freien sein zu können, ohne zu den anderen Leuten hinuntersteigen zu müssen. Leider waren wir aber nicht die einzigen Bewohner dieser mit Kissen, Decken und Teppichen sehr reichlich ausgestatteten Räume. Es logierte da eine solche Menge jener kleinen, lieblich duftenden und zutraulichen Wesen, die der Araber Bakka, der Perser aber Sas oder Millä (Wanze) nennt. Diese letztere Sorte ist übrigens nicht ungefährlich, da ihr Biß unter Umständen direkt giftig wirkt. Der Effendi hatte davon gesprochen, daß er keine Bezahlung von uns nehmen wolle. Mir ahnte aber, daß unser Gehen nicht so friedlich wie unser Kommen verlaufen werde, und so hielt ich es darum für ausgeschlossen, irgend etwas ohne Gegenleistung von ihm anzunehmen. Darum eröffnete ich ihm jetzt, als ich mich bereit erklärte, die Zimmer anzunehmen, daß ich sie und alles andere bezahlen würde, obwohl er darauf verzichtet habe. Da gestand er mir mit fast überirdischer Aufrichtigkeit, daß er sich das genau so gedacht habe, wie ich es ihm jetzt sage. Ein anständiger Mensch lasse sich nichts schenken, sondern er bezahle um so mehr, je weniger man verlange. Da er aber nicht nur wenig, sondern gar nichts von mir verlangt habe, so rechne er auf den höchsten Preis, den es hier oben gebe. Als ich ihn dann aufforderte, diesen Preis zu bestimmen, schüttelte er den Kopf und antwortete, das überlasse er mir. Dann ließ er uns oben stehen und stieg wieder vom platten Dach hinab, daß alle Stufen der Treppe krachten. Halef lachte. Er sagte: